Der W 115.115 von Dr. Hans-Christian Schneider

 

Eine kleine Revolution war es schon, als der Strichacht die Nachfolge der Flosse antrat. Die neue Schräglenker-Hinterachse (aus Rücksicht auf die Vorgängerkonstruktion „Diagonal-Pendelachse“ genannt) -ursprünglich für den Wankelsportwagen C 111 entwickelt-  und eine verfeinerte Vorderachse bescherten der kleinen Baureihe ein unglaublich sicheres Fahrverhalten. Das schon mit der Flosse vorgestellte Konzept der passiven Sicherheit durch eine „gestaltfeste Sicherheitsfahrgastzelle“ sowie der definierten Knautschzonen vorne und hinten wurde weiter verbessert, der Wagen in eine zierlich wirkende, aber dennoch geräumige, von Paul Bracq gestalteten Karosserie verpackt, die Motorenpalette merkbar ausgeweitet. Bis zu 185 PS, bereitgestellt durch einen sehr sportlich ausgelegtem Sechszylinder mit zwei obenliegenden Nockenwellen und 2,8 Liter Hubraum, standen dem Interessenten zur Verfügung. Drei kleinere Sechszylinder, drei Benziner-Vierzylinder, drei Karosserieversionen mit Limousine, Coupe und Langlimousine sowie insgesamt vier unterschiedliche Dieselmotoren sorgten für eine bisher bei Mercedes unbekannte Vielfalt innerhalb einer Baureihe. Und trotz dieser Vielfalt waren es wieder die kleinen Diesel, die sich bestens verkauften. So progressiv man in Untertürkheim die Entwicklung der Baureihe W 115/W 114 angegangen war, so konservativ widmete man sich dem Dieselmotor. Zwar gab es Evolutionsstufen, durch verlängerten Hub (220 D), vergrößerter Bohrung (240 D) und dann, nach Beratung durch den freiberuflichen Ingenieur Ferdinand Piech, durch Anhängen eines fünften Zylinders (240 D 3.0), in der Seele behielt man aber die Konstruktionsprinzipien bei, die sich schon 1958 im Ponton-Diesel fanden: Eine oben liegende, durch Kette angetriebene Nockenwelle, Vorkammerprinzip, Reihen-Einspritzpumpe von Bosch. Auch optisch vermied man Ungewohntes. Abgesehen vom eleganten geschraubten Öldeckel des OM 621 glich der OM 615, wie der Zweiliter-Diesel jetzt genannt wurde, seinem Vorgänger wie ein Ei dem anderen. Dem Erfolg tat dies keinen Abbruch, besonders im Taxi-Gewerbe und in der Landwirtschaft erarbeitete sich der 200D-Strichacht einen legendären Ruf der Unzerstörbarkeit, der in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands noch heute nachhallt.

 

Ein Exemplar, das jedoch aus diesem Bild völlig herausfällt, ist der mittelblaue 200 D von Dr. Hans-Christian Schneider aus Karlsruhe. Ein Blick auf den Produktionsauftrag lässt vermuten, dass der Besteller sich sein ganz persönliches „Experimental-Sicherheits-Fahrzeug“ hat nachbauen lassen. Sicherheitsgurte vorne und hinten, Außenspiegel rechts, Verbundglas, beheizte Heckscheibe, Halogenscheinwerfer, Nebelschlussleuchte, Gürtelreifen und Kopfstützen vorne und hinten rundeten das Sicherheitskonzept von Bela Barenyi sinnvoll ab. Doch auch am Komfort wurde nicht gespart: Servolenkung, Schiebedach, Zentralverriegelung, Mittelarmlehne, Radio Becker Europa mit elektrischer Antenne und automatisches Getriebe waren damals wahrlich kein Standard.

 

Tatsächlich bestellt wurde das Fahrzeug jedoch durch das Autohaus Schoemperlen & Gast in Bruchsal, die es als Ausstellungswagen für den Neuwagenverkauf brauchte. Die Firma Schoemperlen & Gast, immerhin seit 1898 die älteste Autowerkstatt der Welt und erster Vertreter von Daimler-Automobilen überhaupt, hatte augenscheinlich es auch nicht leicht, einen Käufer für den zwar opulent ausgestatteten, aber für einen kleinen Diesel auch recht teuer ausgezeichneten Wagen zu finden. Hergestellt am 30. September 1971 findet sich erst im Frühjahr ein Käufer, der dann am 9. März 1972 für den ersten Haltereintrag im Pappbrief sorgte. Der „Mineralwasserproduzent im Ruhestand“ aus Bruchsal hielt seinem Wagen dann lange Jahre die Treue, bis er ihn am 8. Mai 1986 an seinen Nachbarn, einen pensionierten Postbeamten, verkaufte. Wiederum 14 Jahre und zwei Monate später, am 28. Juli 2000, hatte sein Schwiegersohn die traurige Aufgabe, nach dem Tod des Zweitbesitzers den Wagen aus der Erbmasse heraus zu veräußern.

 

„Herr Schneider, se hen do so a alds Audole. Mein Schwiegervater hatte auch so was. Könntens ma gugge, ob ma des noch verkaufe soll oder so weggebe“, so begrüßte er eines Tages seinen Kollegen Schneider. Bei dem promovierten Maschinenbauingenieur, der auch sonst beruflich viel mit zähem Stahl zu tun hat, weckte die Diesel-Limousine natürlich das ganze Interesse. Zwar hatte er schon zwei Strichacht-Modelle in der Garage, einen vom Großvater ererbten 230/6 in hellelfenbein sowie einen sehr guten, aber dennoch günstig zum richtigen Zeitpunkt erworbenen 200 Vergaser in kaledoniengrün, jedoch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen so komplett ausgestatteten, hervorragend erhaltenen Wagen zu erwerben. Mit einem Kilometerstand von 158.000, ohne strukturellen Rost, mit den originalen Radläufen, dem originalen Chrom und einer makellosen Innenausstattung belässt Herr Dr. Schneider den Wagen im übernommenen Zustand. Die trotz allem vorhandenen Spuren der Jahre, Dellen neben dem hinteren Nummernschild, eine weniger gut lackierte Fondtüre links, gehören zur Geschichte des Fahrzeugs und der Tatsache, dass es nun über drei Jahrzehnte als zuverlässiges und wirtschaftliches Fahrzeug dient.

 

Weiter mit: Der W 123.120 von Berta Liebeler

 

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