Der W 123.120 von Berta Liebeler

 

Bewährtes zu verfeinern, so mag die oberste Prämisse bei der Entwicklung des W 123 gelautet haben. Und tatsächlich war die 1976 neu vorgestellte kleine Baureihe nicht wirklich ein Innovationsträger, sondern vereinte vorhandene technische Lösungen zu einem harmonischen Paket, dem dann auch ein ungemeiner wirtschaftlicher Erfolg beschieden war. Mit 2,8 Millionen verkauften Exemplaren in neun Jahren Bauzeit blieb er bis heute die meistgebaute Baureihe bei Mercedes. Die Kunden standen für den Wagen förmlich Schlange, Lieferzeiten von bis zu sechs Jahren bei einzelnen Modellen waren die Folge. Es war ja auch ein sehr harmonisch konstruiertes Fahrzeug, das die Begehrlichkeiten weckte: An der Hinterachse vom Strichacht gab es nichts zu verbessern, die Vorderachse war stark angelehnt an der Konstruktion der S-Klasse W 116, die 1972 debütierte. Sie verzichtete auf den Fahrschemel und bot, da auf den Lenkrollradius „0“ ausgelegt, ein verbessertes Fahrverhalten. Besonders beim Bremsen auf welliger oder einseitig rutschiger Fahrbahn hielt sie die Lenkung frei von störenden Einflüssen, was den Wagen in Extremsituation wesentlich beherrschbarer machte. Während die Gestaltung der Karosse innen und außen eher konservativ weitgehend Elemente des Vorgängers mit der S-Klasse verband, blieb der W 123 ansonsten während seiner ganzen Bauzeit am Puls der Zeit: Neben einer Klimaautomatik waren später ein Fahrerairbag und sogar das Antiblockiersystem von Bosch erhältlich! Beim Antrieb jedoch, da war die Kundschaft vor Überraschungen gefeit: Bei den Benzinern waren sowohl die Vierzylinder M 115 als auch der Doppelnocker M 110 alte Bekannte. Zwar gab es noch einen eigens für die Baureihe entwickelten Sechszylinder mit 2,5 Liter Hubraum und Vergaser, jedoch führte dieser Motor eher ein Schattendasein. Erst spät, zur Modellpflege 1980, hielt mit dem komplett neu konstruierte M 102 ein neuer Motor Einzug unter der Haube und bescherte der Baureihe W 123 noch einen zweiten Frühling. Bei den Dieselmotoren fand der Fortschritt in kleinen Schritten statt: Eine verbesserte Einspritzung brachte ein kleines Leistungsplus, statt 55 PS bewegten den 200 D ab Februar 1979 60 PS. Gleichzeitig ließ sich der Motor jetzt mit dem Schlüssel starten, was leider auch das Ende des kultigen Zugstarters bedeutete. Für besonders leistungshungrige Dieselliebhaber stand im neuartigen T-Modell ab 1980 der Dreiliter-Turbodiesel mit 125 PS zur Verfügung, den die amerikanische Kundschaft auch für die Limousine und das Coupe ordern konnte. Die wirtschaftlich denkendere Kundschaft hielt bis zum Produktionsende 1984 jedoch dem 200 D die Treue, sicherlich auch beeinflusst von einer Leserbefragung des Fachblatts Auto Motor und Sport im Heft 16/81. Statistisch gesehen mussten  852.777 Kilometer vergehen, bis ein 200 D-Fahrer zum ersten Mal die Hilfe eines Abschleppwagens benötigt.

 

Eine Mercedes-Kundin, die auch heute noch, mehr als zwanzig Jahre später, das entschleunigte Reisen mit 60 PS schätzt, ist Berta Liebeler aus Niederzissen im Herzen der Eifel. Als klassischer Jahreswagenkauf vom Werksangehörigen kam der im Juni 1982 gebaute, classicweiße 200 D im Jahre 1983 zum Ehepaar Liebeler. Da Heinrich Liebeler als Direktor der Berlinischen Lebensversicherung zuvor schon mehrere Mercedes als Dienstwagen gefahren hatte, fiel die Wahl selbstverständlich auf eine Sindelfinger Limousine. Erstmals sollte es jedoch kein Neufahrzeug, sondern ein eben eingefahrener Wagen sein, gerade so wie es der Schwiegersohn kurz zuvor mit einem 230E vorgemacht hatte. In einer Lokalzeitung im Großraum Stuttgart wurde eine Suchannonce aufgegeben, da dies, im Zeitalter vor Internet und Globalisierung, einen seriösen Kontakt zu aufrichtigen Verkäufern versprach. Schnell war der Wagen in ansprechender Farbe mit dem gewünschten Schiebedach gefunden, alleine der Umstand, dass der Vorbesitzer Raucher war, störte das Bild. Jedoch gelang es, durch beharrliches, wohldosiertes Lüften die olfaktorischen Hinterlassenschaften des Tabakkonsums aus dem Wagen zu vertreiben, ohne ihm dabei den typischen Mercedes-Neuwagengeruch zu nehmen, mit dem er auch heute noch zu überraschen weiß. Als Heinrich Liebeler im Herbst 1987 verstarb, hielt Berta Liebeler ihrem Mercedes die Treue. Zwar reduzierte sich im Laufe der Jahre der Einsatzradius, statt Urlaubsfahrten in den Süden führen die weiteren Fahrten jetzt zum Kloster Maria Laach, nach Bad Neuenahr oder ins Rheintal. Den Führerschein oder gar den Wagen abzugeben, steht für Frau Liebeler jedoch völlig außerhalb jeder Diskussion. Die aktive Ausübung der Fahrerlaubnis, übrigens vor 39 Jahren in Wiesbaden bei einer Fahrschule erlangt, die nur auf Mercedes schulte, ruht derzeit vorübergehend. Es gilt, erst ein Beinleiden zu kurieren, bis die resolute Dreiundneunzigjährige wieder zweimal die Woche zum Kaufmann in den Nachbarort fahren wird. Für Berta Liebeler, wie für den Wagen, der jetzt 82.000 Kilometer auf der Uhr hat, also ein geruhsamer und dennoch bewegter Lebensabend.

 

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